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Antifa-Roman

24 | Celeste II

Nach der Versammlung laufen die meisten Schüler Richtung Bushaltestelle. Celeste ist unter ihnen. Sie hat Angst. Bushaltestellen bleiben für sie immer der Ort, an dem ihr Vater ermordet wurde. Dort erscheint ihr das Bild seines zertretenen Schädels vor ihrem inneren Auge. Heute kommt dazu, dass auch die Nazis unterwegs sind. Die Typen von ihrer Schule. Mitschüler, die vielleicht die kennen, die ihren Vater umgebracht haben.

Ihr schaudert. Obwohl sie mit den anderen scheinbar unbeschwert plaudert, tasten ihre Augen die Umgebung ab. Es ist bereits diesig und ungemütlich zu dieser Stunde. Herbststimmung. Zeit, sich auf Tage in dicken Jacken und mit Tee vor dem Ofen einzustellen.

Celeste hat dafür gerade keine Gedanken. Ihre Sinne sind alarmiert. So lebt sie jeden Tag. Im Moment ist es besonders schlimm. Außer im Gerichtssaal waren ihr Nazis noch nie so nah. Deren Ausstrahlung empfindet sie als ekelhaft. Mit Schaudern erinnert sie sich an den hasserfüllten Blick von Peter Müller.

Wie kann man einen unbekannten Menschen nur so anfeinden? Wegen meiner Hautfarbe? Was passiert in einem Menschen, dass er so etwas in sich trägt? Ohne persönlichen Grund. Was für ein kaputter Mensch … denkt Celeste. Er würde mich töten. Für ihn bin ich kein Mensch, sondern Dreck. Ein Tier. Eine Schabe. Unwürdig. Untermensch. Vogelfrei.

Als sie in den Bus einsteigt, bildet sie sich ein, dass sie beobachtet wird. Aber sie ist sich nicht sicher. Es ist ein Gefühl. Manche Menschen bemerken, wenn Blicke auf ihnen ruhen oder wenn sich ihnen jemand von hinten nähert. Celeste gehört dazu. Sie spürt sowas. Doch sie kann niemanden sehen. Zusammen mit den anderen steigt sie in den Bus. Aber ihr Gefühl war richtig. Die fünf Nazis stehen hinter einer Ecke und beobachten sie.

„Das ist das Mädchen aus dem Gerichtssaal.“

„Bist du dir da ganz sicher?“, fragt Peter Müller einen seiner Lakaien.

„Ja, sie saß auf der Zuschauerbank.“

„Das heißt, sie kennt Maik nicht?“

„Nein, sie ist keine Zeugin, die hat nichts gesehen. Sie ist nur die Tochter von dem toten Neger.“

„Aha, und jetzt spielt die Schlampe Antifa. Das passt ja wieder mal hervorragend.“

„Was machen wir eigentlich mit Maik?“

Peter Müller schaut ihn fragend an. „Nichts. Was sollen wir machen? Wenn wir ihn jetzt in die Ukraine zu den Kameraden schicken, wissen alle, dass er es war. Er muss hierbleiben und sich dieses Scheiß-Tattoo wegmachen lassen.“

Als Celeste aus dem Bus steigt, sucht sie gewohnheitsmäßig die Umgebung ab. Morgen ist wieder Prozesstag. Sie darf hingehen, weil der Ermordete ihr Vater war. Hätte sie nicht so gute Noten, Direktor Millner hätte nie zugestimmt. Immerhin war die Frau vom Jugendamt auf ihrer Seite. Sie begleitet Celeste zum Gericht. Allein würde sie sich nicht trauen. Davor stehen immer die Freunde des Angeklagten und drohen ihr. Die Polizei schaut nur zu.

Vielleicht ist der Prozess ja morgen schon vorbei. Bisher gibt es keinen Mörder. Der Autohalter hat ein Alibi für den Mordzeitpunkt. Den Autoschlüssel hatte er angeblich schon Tage vorher verliehen, völlig besoffen. Das macht er öfter, hat er behauptet, so bezahlt er angeblich Außenstände bei seinen Kumpels. Manchmal bekommt er sein Auto erst eine Woche später wieder. Wer dann wann und wohin damit herumgefahren ist, weiß er fast nie. Die Aussagen sind völlig unglaubwürdig, aber solange der Typ mit dem Tattoo nicht gefasst ist, solange gibt es auch keinen Mörder.

Die Frau vom Jugendamt sagt, dass alles nach Freispruch aussieht.

Celeste kann das alles nicht glauben. Gedankenversunken läuft sie nach Hause. Dass einer der Nazis dem Bus mit dem Moped gefolgt ist, merkt sie nicht. Sie wissen nun, wo sie wohnt.